10
April
Morgens kommt die SMS: der O-Platz wird geräumt.
Zu dem Zeitpunkt verbreitet schon die bürgerliche Presse: Die Flüchtlinge vom Oranienplatz gehen freiwillig und bauen selbst ihr Camp ab.

Auf dem O-Platz dagegen ein anderes Bild: Ein Stoßtrupp von ca. acht Männern reißt mit Brechstangen, Messern und Hammern bewaffnet nach und nach Zelte und Hütte ein. Man erkennt sie an ihren noch weißen, nagelneuen Arbeitshandschuhen. Die BSR folgt mit großem Gerät und baggerte die Haufen weg. Hier und da greifen die BSR-Arbeiter_innen in die Trümmer und stecken gefundene Münzen ein oder schrauben goldfarbene Sesselknaufe ab. Auch die wandern in die Taschen ihrer Blaumänner. Der Frage, wann sie informiert wurden, weichen sie aus. Sie seien erst seit kurzem da um Hilfe beim Abbau zu leisten. Ich kann ihnen nicht glauben, denn sie sind gut vorbereitet und sie sind definitiv länger da als die letzte halbe Stunde, die sie dann doch noch als vages Zeitmaß angeben. Mit dem Rechen ziehen sie ordentliche, gerade Linien in die staubige Erde. Das einzige, was jetzt noch fehlt, sind Gartenzwerge.

Unterstützer_innen versuchen Materialien zu retten. Sie ziehen Planen und Zelte aus den Trümmerhaufen und schaffen sie beiseite. Hämisch ruft eine BSR-Arbeiterin, sie sollen doch die Jungs da drüben um Hilfe bitten. Die stehen nur faul rum und machen nichts, während sich die Mädchen abmühen. Das sei ja mal wieder typisch. Sie deutet auf eine Gruppe Geflüchteter und Unterstützer, die benommen vor einer Hütte steht und zusieht, wie ihre einstigen Kampfgefährten lachend und händeklatschend über den Platz fegen und hier ein Dach runterzerren und dort eine Wand eintreten.

Dazwischen immer wieder Presse und Politiker_innen. Hier ein Interview, dort ein Foto. Weit und breit keine Polizei. Das ist auch nicht nötig. Der Stoßtrupp erledigt ihre Arbeit.

Die Stimmung ist gespenstig. Viele sind gelähmt, mache weinen, viele laufen ziellos umher. Immer wieder kocht Wut hoch. Geflüchtete und Unterstützer_innen stellen sich dem Abbruchtrupp in den Weg und stellen sie zur Rede. „Ihr habt euch kaufen lassen und alle anderen mitverkauft“, lautet der Vorwurf. „Wir haben keine Wahl“, kommt als Antwort. Es ist schwer in dieser Situation zu handeln. Sich ihnen massiv in den Weg zu stellen, verbietet sich irgendwie. Warum bleibt vage. Für manche gilt es das Pressefoto zu verhindern, auf dass sich die deutsche Normalität nur zu gern stürzen würde. Nachdem der Vorwurf im Umlauf war, dass die linke Szene die Geflüchteten für ihre eigenen Interessen instrumentalisieren würde, wäre so ein Foto das beste Feigenblatt für die Spaltungsstrategie der Politiker_innen. Für andere sitzt der Schock und die Enttäuschung zu tief. Fragen ziehen in Endlosschleife durch meinen Kopf und bleiben unbeantwortet: Warum machen sie das? Glauben sie wirklich, dass dies die richtige Entscheidung ist? Sind sie wirklich überzeugt davon? Oder haben sie sich für ein paar versprochene läppische Privilegien kaufen lassen? Wie können sie nur so naiv sein? Sie werden doch sowieso abgeschoben, nur vielleicht ein paar Monate später, dann wenn der Protest nicht mehr sichtbar ist. Wie können sie nur so blind sein? Wie massiv müssen sie unter Druck stehen, dass sie diesen Preis bezahlen? Und wenn von ein paar hundert Geflüchteten nur eine Handvoll bleiben darf, klebt an ihnen der Verrat. Glauben sie, dann hier glücklich werden zu können? Sind sie schon so zermürbt, so zerstört worden, dass sie um jeden Preis einen Aufenthaltstitel wollen, auch um den Preis des Verrats? Weiß ich so wenig über ihre Situation, dass ich mich so wenig in ihre Lage versetzen kann, weil ich das nicht begreife?
Wieder andere haben Angst. Der Chef des Stoßtrupps bleibt auch schon mal in drohender Geste mit ausgeholtem Hammer vor jemanden stehen und drängt ihn mit seiner üppigen Körpermasse zur Seite. Andere rammen entschlossen ihre Brechstangen neben den Köpfen der Abrissgegner in die Wände der Hütten, auch in die, die nach dem Willen ihrer Bewohner_innen stehen bleiben sollen. Der Polizeipräsident soll in Sichtnähe stehen und alles beobachten. Er ruft nicht die Polizei, obwohl in dieser Lage ein Menschenleben gerade nicht viel zu zählen scheint. Er wird die Polizei erst rufen, wenn das Aufräumen durch die Blockade der BSR-Bagger und durch das Umstürzen der nagelneuen Umzäunung behindert wird.

Die Politik hat es geschafft, die Gruppe der Geflüchteten zu spalten und aufeinander zu hetzen. Henkel von der CDU hätte bei einer Räumung mittels Polizeieinsatz massiven Widerstand erfahren und zur weiteren Eskalation in der Stadt und zur wachsenden Solidarisierung mit den Geflüchteten beigetragen. Hermann von den Grünen rühmt sich die Räumung und damit die Eskalation durch Henken verhindert zu haben. Kolat von der SPD kann als Frau mit Migrationshintergrund lächelnd verbreiten, wie stolz sie auf die Flüchtlinge sei, dass sie sich an ihren Teil der Vereinbarung gehalten haben und dass es ein Erfolg ist, dass die Flüchtlinge den linken Aktivist_innen als Spielzeug weggenommen werden konnten. Auch das ist das Ergebnis von Integration, wird mir später jemand sagen, während jemand anderes sagen wird: das sind faschistische Methoden, wenn die Politik Gruppen aufeinander hetzt und ihre Vorgaben von Stoßtrupps ausführen lässt.

Ein Mann, der vor seiner Hütte steht und wohl noch nicht genau weiß, ob er seine Sachen in Sicherheit bringen soll oder ob er seine Hütte gegen den Abbruchtrupp verteidigen kann, fragt: „Bist du traurig?“ Meine Antwort: „Ja.“ Er lächelt müde und sagt: „Das ist Europa.“ Er nimmt sich eine Sackkarre und bepackt sie mit seinen Sachen. Ich gebe einer weinenden Camp-Bewohnerin Taschentücher und drücke in eine mir unbekannt Hand Münzen, die die BSR-Arbeiter_innen noch nicht gefunden und eingesteckt haben.

 
 
Über Café Reiche
Café Reiche ist ein loser Zusammenhang von Bewohner_innen aus dem Kiez rund um die Reichenberger Straße in Berlin-Kreuzberg. Seit Oktober 2010 wird sich regelmäßig getroffen, ausgetauscht und gemeinsam an Projekten gearbeitet.

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Zu kontaktieren ist Café Reiche unter cafereiche[at]riseup.net.

Treffen
Wir treffen uns jeden 1. Sonntag des Monats um 16 Uhr in der Kantine der Regenbogen-Fabrik in der Lausitzer Straße 22 im Hinterhof.

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